Wahlen in Mexiko: Präsidentin Sheinbaum will die Vierte Transformation vorantreiben

Interview

Bei den größten Wahlen in der Geschichte Mexikos gewinnt Claudia Sheinbaum von der Regierungspartei deutlicher als erwartet und wird die erste Präsidentin in der Geschichte des Landes. Vor welchen Herausforderungen steht sie? Was kann das Land von ihr erwarten? Julia Scherf und Mareike Bödefeld im Gespräch mit unserem Büroleiter in Mexiko, Florian Huber.

Lesedauer: 9 Minuten
Wahlplakat der Regierungspartei MORENA auf einer grau-gelben Wand
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Wahlplakat der Regierungspartei MORENA.

Am 2. Juni 2024 fanden in Mexiko die größten Wahlen in der Geschichte des Landes statt. Was wurde gewählt?

An diesem Superwahltag fanden infolge einiger Wahlrechtsreformen nicht nur Präsidentschafts- und Kongresswahlen statt, sondern auch Regionalwahlen: Gouverneurswahlen in neun der 32 Bundesstaaten, Wahlen für die regionalen Abgeordnetenkammern in mehreren Bundesstaaten, sowie Gemeindewahlen für Bürgermeister- und Gemeinderatsämter. Knapp 99 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, ihre Stimmen in mehr als 170.000 Wahllokalen für mehr als 20.000 neu zu vergebene Ämter abzugeben. Die Wahlbeteiligung für die Präsidentschaft- und Kongresswahlen lag bei ca. 60 Prozent.

Wer sind die Gewinner*innen der Wahl? 

Gewinner ist die Präsidentschaftskandidatin Claudia Sheinbaum, ihre linksnationale Regierungspartei Morena und der amtierende Präsident Andres Manuel López Obrador, bekannt als AMLO.  Sheinbaum, gewann überraschend noch deutlicher als erwartet. Kurz vor Mitternacht des Wahlsonntags lag sie mit ca. 59,5 Prozent der abgegebenen Stimmen deutlicher als erwartet mit knapp 32 Prozent vor der Oppositionskandidatin Xóchitl Gálvez. Sheinbaum wird die sechsjährige Präsidentschaft am 1. Oktober antreten. Die Regierungspartei Morena (Moviemiento de Renovación Nacional) gewann bei den Kongresswahlen zusammen mit dem bestehenden Regierungsbündnis (mit den Parteien Partido Verde Ecologísta México (PVEM) und Partido del Trabajo (PT) ebenfalls deutlich. Im Abgeordnetenhaus erreichte das Regierungsbündnis eine Zweidrittelmehrheit, im Senat ist eine Zweidrittelmehrheit ebenfalls noch möglich. Schließlich schaffte Morena bei den Gouverneurswahlen die Wiederwahl in sechs Bundesstaaten, einschließlich Mexiko-Stadt mit der Kandidatin Clara Brugada. Damit regiert Morena nun in 24 der 32 Bundesstaaten alleine oder in einem Parteienbündnis.

Wer sind die Verlierer*innen der Wahl?

Großer Verlierer der Wahlen war das Oppositionsbündnis der Parteien PRI (der ehemaligen Staatspartei, die das Land mehr als 70 Jahre regierte), PAN (rechts-konservativ) und PRD. Die PRI liegt mit knapp über 10 Prozent der Stimmen im Kongress etwa gleichauf mit der relativ jungen Partei Movimiento Ciudadano. Dieser gelang mit ca. 11 Prozent der Stimmen im Kongress und ihrem Präsidentschaftskandidaten Jorge Máynez (ca. 10 Prozent der Stimmen) ein besseres Ergebnis als erwartet. Movimiento Ciudadano und PAN gewannen außerdem jeweils in einem Bundesstaat die Gouverneurswahlen. 

Wer ist die zukünftige Präsidentin des Landes?

Claudia Sheinbaum, eine 61-jährige Politikerin und Physikerin war von 2018 bis 2023 Oberbürgermeisterin von Mexiko-Stadt. Bereits von 2000 bis 2006 war sie Umweltministerin der Hauptstadt mit dem damals regierenden Oberbürgermeister der Hauptstadt AMLO. Die studierte Physikerin promovierte in den 1990er Jahren an der Universität Berkeley in Energietechnik und Physik und forschte vor ihrem Wechsel in die Politik an der renommierten Universidad Nacional Autónoma de México zu Energie- und Umweltthemen. 2007 wurde sie Mitglied des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) und war 2013 am fünften Sachstandsbericht des IPCC beteiligt. Als Oberbürgermeisterin von Mexiko-Stadt (2018-2023) managte sie u.a. die Pandemiekrise, förderte den Ausbau von Sozialprogrammen, setzte sich für mehr Umweltschutz und die Elektrifizierung des öffentlichen Transports ein, und war für die öffentliche Sicherheitspolitik in der Hauptstadt mitverantwortlich. 

Welche Erwartungen gibt es nach sechs Jahren AMLO an Sheinbaum als neue Präsidentin?

Für Sheinbaum liegt die Herausforderung darin, die von der Bevölkerung in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen, dem politischen Erbe AMLOs gerecht zu werden und gleichzeitig eigene politische Akzente zu setzen. Mit dem beeindruckenden Wahlergebnis ist die Ausgangslage für sie günstig, aus dem politischen Schatten AMLOs zu treten und die politischen Zügel an sich zu ziehen. Sheinbaum, die als ziel- und ergebnisorientiert und gute Managerin gilt, muss die Partei und das Parteibündnis für die Zeit nach AMLO zusammenhalten und festigen. Denn das politische Projekt Morena ist vor allem ein Projekt AMLOs gewesen, der es dank seines politischen Geschicks, Instinkts und charismatischen, pragmatisch-populistischen Politikstils auf Kurs hielt. In Mexiko wird Politik aber häufig weniger von ideologisch-politischen Überzeugungen als von politischen Machtinteressen und interessensgeleiteten Schachzügen geprägt. 

Sheinbaum ist mit dem politischen Versprechen angetreten, die 4T – vierte Transformation - fortzuführen. So bezeichnete AMLO das politische Projekt seiner sechsjährigen Amtszeit (sog. sexenio) in einer Reihe mit drei historischen gesellschaftspolitischen Transformationsprozessen des Landes: der Unabhängigkeit von Spanien (1810-1821), den liberalen Reformprozess gegen die konservativen politischen Kräfte des Landes (1858-1862) und der mexikanischen Revolution (1911-1917).   

Die 4T sieht insbesondere eine linksnationale Politik vor, in der breite Bevölkerungsschichten im Rahmen einer gerechteren Sozialpolitik von umfassenden Sozialprogrammen profitieren sollen, gegen die neoliberalen Politiken der früheren Regierungsparteien PRI und PAN (kurz PRIAN). AMLO erhöhte den Mindestlohn und die Renten und baute soziale Förderungsprogramme für vulnerable Gruppen aus. Die Armutsrate sank von 42 Prozent bei AMLOs Amtsantritt 2018 trotz der Pandemie zwischen 2020 und 2021 auf 36 Prozent im Jahr 2022. 

Wie steht es um die mexikanische Wirtschaft? Welche Spielräume hat die neue Präsidentin?

Die versprochenen Sozialprogramme konnte AMLO in den letzten Jahren insbesondere durch eine florierende Wirtschaft sowie seine, teils symbolische, staatliche Austeritätspolitik und Subventionskürzungen finanzieren. Das Wirtschaftswachstum lag 2023 bei 3,2 Prozent. Ausländische Direktinvestitionen erreichten neue Rekorde infolge des Nearshoring-Effekts (d.h. der Verlagerung von Lieferketten und der Produktion infolge der pandemiebedingten Lieferkettenstörungen und geopolitischer Spannungen zwischen China und den USA aus China und Asien nach Mexiko). Die Geldüberweisungen von mexikanischen Migrant*innen aus den USA an Familienangehörige in Mexiko und der mexikanische Peso erreichten Höchststände. 

Doch trotz dieses „Mexican Moments“ ist auch das Haushaltsdefizit nicht zuletzt durch die vorgezogenen Sozialleistungstransfers vor den Wahlen auf ein neues Hoch von fast 6 Prozent des BIP gestiegen. Hier liegt eine der zukünftigen Herausforderungen für Sheinbaum.

Ist mit Sheinbaum ein Wechsel in der nationalen und internationalen Energie- und Klimapolitik zu erwarten?

Der Energiesektor wurde unter AMLO wieder unter staatliche Kontrolle gestellt und Reformen der Vorgängerregierung zur Liberalisierung in der Energiepolitik zurückgenommen. AMLO förderte vor allem fossile Energieträger sowie den (Aus)Bau neuer Raffinerien. Die Förderung erneuerbarer Energien und die Energiewende hatten für ihn keine Priorität. Der staatliche Erdölkonzern PEMEX ist stark verschuldet. Das staatliche Energieunternehmen Comisión Federal de Electricidad (CFE) produziert Strom hauptsächlich über konventionelle Energieträger. Etwa drei Viertel der Stromproduktion im Land stammten 2022 aus fossilen Energiequellen, nur 10 Prozent aus Wasserkraft bzw. 10 Prozent aus Solar- und Windenergie. Im Bereich der Klima- und Umweltpolitik sind mit Sheinbaum eventuell neue Akzente zu erwarten. Hitze, Dürre und Wasserknappheit machen den Menschen immer mehr zu schaffen. Ob es strukturelle Veränderungen geben wird, insbesondere bei der staatlichen Kontrolle über die Energieinfrastruktur und -versorgung, bleibt aber abzuwarten. Sheinbaum hat wiederholt geäußert, dass die nationale - v.a. auf fossiler Energieerzeugung beruhende - Energiesicherheit und -souveränität für sie Priorität habe.

Eine der größten Herausforderungen ist die Sicherheitspolitik. AMLO setzte auf Militarisierung. Und Sheinbaum?

Das Militär und die unter AMLO neugegründete Nationalgarde wurden nicht nur für den Kampf gegen Drogenkartelle eingesetzt, sondern auch bei der Kontrolle der Migration. AMLO übertrug Armee, Marine und Nationalgarde die Planung, Durchführung und Kontrolle großer Infrastrukturprojekte (Flughäfen, Häfen, Zugverbindungen, Autobahnen sowie Tourismus- und Energieinfrastrukturprojekte), die Zollverwaltung in Häfen und weitere zivile Aufgaben.  Sheinbaum hatte während des Wahlkampfs angekündigt, an der Militarisierung der öffentlichen Sicherheit und großer Infrastrukturprojekte festhalten zu wollen.

In den letzten Jahren haben sich die bewaffneten Gruppen (mehr als 500) der organisierten Kriminalität, darunter die Drogenkartelle, weiter diversifiziert. Der Drogen- und insbesondere Fentanylhandel bleibt ein lukratives Geschäft, das durch weitere Einkommensquellen – darunter Schutzgelderpressungen, Menschenhandel und Geldwäsche (im boomenden Immobiliengeschäft), -  ergänzt wird. Dabei versuchen die bewaffneten Gruppen vor allem auf lokaler Ebene auch politische Entscheidungsträger mit Gewalt unter Druck zu setzen.

Die letzten fünfeinhalb Jahre waren mit insgesamt mehr als 180.000 Toten das tödlichste Sexenio eines Präsidenten. Die Regierung argumentiert, die Mordrate liege heute 10 Prozent unter der zu Beginn von AMLOs Präsidentschaft. Eine Trendwende sei eingeleitet. Sheinbaum möchte daher nun die Kooperation und Koordination zwischen Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitskräften auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene verbessern. 

Zum ersten Mal wird Mexiko von einer Frau regiert. Ist das auch ein Zeichen für einen politischen Wandel in einem Land, in dem Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen immer noch weit verbreitet sind?

Mexiko hat in den letzten Jahren wichtige Fortschritte bei der politischen Beteiligung von Frauen und Minderheiten gemacht. Eine Quotenregelung verlangt die paritätische Besetzung der Sitze im Kongress. Indigenen Gruppen und LGBGTI+ sind Sitze im Kongress zugewiesen. Allerdings bleibt die reale politische Einflussnahme für Frauen eine Herausforderung. Das Verhältnis von feministischen und Opferorganisationen zu Sheinbaum gilt nicht zuletzt aufgrund ihrer Sicherheitspolitik als Oberbürgermeisterin als distanziert. AMLO behandelte Menschenrechtsorganisationen als lästigen Störfaktor.

Welche Aussichten schafft der fulminante Wahlsieg von Morena für die politisch-institutionelle Zukunft Mexikos? 

In der Abgeordnetenkammer errang Morena eine Zweidrittelmehrheit, im Senat ist diese in greifbarer Nähe. In diesem Fall wären Verfassungsänderungen möglich. AMLO hatte Anfang des Jahres ein Paket mit 20 Verfassungsänderungen dem scheidenden Kongress unterbreitet. Dieses sieht u.a. die Schwächung von autonomen Kontrollinstanzen, die Wahl von Bundesrichter*innen durch das Volk und die Kontrolle der Nationalgarde durch das Verteidigungsministerium vor. Kritiker sehen darin eine Gefahr für das politische System der Gewaltenteilung, die richterliche Unabhängigkeit und die mexikanische Demokratie.

Welche außenpolitischen Herausforderungen erwarten Sheinbaum?

AMLO zeigte wenig Interesse an internationaler Politik und konzentrierte sich auf innenpolitische Fragen. Sheinbaum hat nun die Gelegenheit, Mexiko, das Mitglied der G20 und OECD ist, bei Fragen der internationalen Klima-, Umwelt- und Energiepolitik international neue Relevanz zu verleihen.

Für die ungelöste Migrationsproblematik wird Sheinbaum, wenn sie am 1. Oktober das Amt als Präsidentin antritt, vor allem auf die Präsidentschaftswahlen in den USA einen Monat später blicken. Der Handelsstreit zwischen den USA und China mit seinen möglichen Auswirkungen auf das Nearshoring und mexikanische Exporte in die USA sind für Mexiko – mittlerweile der größte Handelspartner der USA – auch relevant. In zwei Jahren steht die Überprüfung des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, USA und Kanada an. Das neu ausgehandelte Freihandelsabkommen zwischen Mexiko und der EU ist bis heute nicht ratifiziert und in Kraft getreten.


Die Fragen stellten Julia Scherf und Mareike Bödefeld


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